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2. Textanalyse und Interpretation
2. 1. Textkritische Untersuchung
Die oratio pro Marcello wurde schon im Altertum vielfach überliefert,
so dass es zwar einen textkritischen Apparat gibt, der aber kaum inhaltliche
oder grammatische Änderungen enthält.
Dem Herausgeber der Ausgabe (1) liegen drei Handschriftensammlungen
vor: die erste, a, besteht aus den Handschriften Ambrosianus (A), Harleianus
2682 (exemplar secundum) (H) und Vossianus (V), die zweite, b,
ist zusammengesetzt aus den Codices Bruxellensis (B), Dorvillianus (D),
Harleianus 2716 (L) und Erfurtensis (E) und in g, der dritten, wurden
die Überlieferungen Harleianus 4927 (a), Harleianus 2682 (exemplar
primum) (h) und Mediceus (m) gesammelt. Dabei hält der Herausgeber
H, D, und m für die jeweils beste Überlieferung der Sammlung,
E für die schlechteste. Seiner Meinung nach wurden b und g aus a
abgeleitet, "quasi e puriore quodam fonte derivatos - gewissermaßen
wie aus derselben reinen Quelle abgeleitet" (2),
die anderen vorhandenen Überlieferungen hält er für unglaubwürdig
und mit der Zeit verunstaltet.
Im Abschnitt 13 - 16a findet man allerdings meist nur veränderte
Wortstellungen und eine andere Reihenfolge der Worte oder Anmerkungen
zu Auslassungen kleiner Wörter bei einigen Codices.
Größere Unterschiede gibt es an zwei Stellen im Text. Die
Ausgabe schreibt in Kapitel 14: "... de pace audiendum putavi
... - glaubte ich, man müsse vom Frieden hören" Dies
findet sich bei der Sammlung a sowie beim codex Erfurtensis (aus b) und
Mediceus (aus g). Andere, nämlich der Rest der Sammlung b, schreiben
"de pace agendum audiendum - man müsse von Friedenshandlungen
hören". In den Codices Harleianus 4927 und 2682 (exemplar
primum) (beide aus g) findet man "de pace agendum audiendumque
- man müsse über den Frieden verhandeln und von ihm hören".
Was spricht nun für die einzelnen Möglichkeiten? Warum entschieden
sich die Herausgeber ausgerechnet für die Variante, in der ein ganzes
Wort (agendum) fehlt? Die letzte Lesart wäre durchaus denkbar,
da "de aliquo agere" ein Terminus technicus ist und meist
eine Antragstellung oder Verhandlung vor dem Senate oder dem Volke ausdrückt.
Allerdings hält Cicero diese Rede zwar vor dem Senat, zu dem Zeitpunkt
aber, als man über den Frieden verhandeln sollte, herrschte gerade
der Bürgerkrieg, in dem Cicero keine Reden hielt. Auch die zweite
Möglichkeit der Sammlung b wäre vorstellbar, wird hier doch
deutlich gemacht, dass man nicht nur über den Frieden reden, sondern
ihn auch gleich durchsetzen sollte. Ich würde allerdings, wie der
Herausgeber, die erste Variante bevorzugen, hier fehlt zwar ein Wort,
allerdings findet sich diese Variante in allen Handschriften der vermutlich
reinsten Sammlung, sowie bei zwei Codices, die zu anderen Sammlungen gehören.
Also fehlt "agendum" bei den meisten und wahrscheinlich
auch glaubwürdigsten (nämlich H und m) Handschriften.
Einen ähnlichen Fall findet man in Kapitel 15: " ... minus
mirum fortasse tum ... - weniger wunderlich vielleicht damals ..."
schreiben die Handschriften der Sammlung a und b, außer der codex
Erfurtensis, in dem die Reihenfolge umgewandelt wird: "minus fortasse
mirum tum ... - vielleicht weniger wunderlich damals...". Die
Codexsammlung g ergänzt noch: "minus mirum videretur
(videtur schreibt h) fortasse tum - weniger wunderlich schien
(scheint h) vielleicht damals...". Hier scheinen mir die Gründe
für die Entscheidung eher die Unterschiede in der Bedeutung zu sein.
So liegt die Betonung in der ersten Lesart eher auf dem Zeitpunkt ("Vielleicht
damals weniger verwunderlich"), in der zweiten Lesart hingegen
eher auf dem Grad der Verwunderung ("Damals vielleicht weniger
verwunderlich"). Die Unterschiede sind allerdings minimal und die
Aussage des Satzes bleibt trotz anderer Wortreihenfolge bestehen, zumal
auch nur eine, noch dazu die wahrscheinlich schlechteste, die Reihenfolge
ändert. Die Wahl des Wortes "videtur" möchte
ich ausschließen, da es sich nur in einer einzigen Handschrift findet
und der Präsenz mir in Zusammenhang mit dem in die Vergangenheit
weisenden "tum" in diesem Kontext nicht gerechtfertigt
zu sein scheint. Die Ergänzung "videretur" der Codexsammlung
g halte ich allerdings auch für möglich, da die Verwunderung
dadurch noch weiter relativiert wird und weniger als für alle feststehende
Tatsache aufgefasst werden kann. Weil in diesem Satz auch kein Prädikat
zu finden ist (wahrscheinlich ist "est" zu ergänzen),
war ich geneigt mich in der Übersetzung für die Lesart der Codexsammlung
g zu entscheiden. Nach dem Erforschen der Abstammung schließe ich
mich jedoch auch hier wieder dem Herausgeber an, der die erste Lesart
wahrscheinlich deshalb gewählt hat, weil deutlich mehr Handschriften,
darunter sowohl die vermutliche Quellensammlung und zwei der besten Überlieferungen
(H und D), den Text so ausweisen und eventuell auch, weil die Darstellung
der Möglichkeit schon durch "fortasse" gegeben ist.
(1) M. Tulli Ciceronis orationes, Oxonii
(2) M. Tulli Ciceronis orationes, S. vii
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